Um 83 % stieg in einem Jahr die Wohnunglosigkeit in Berlin. Über 30.000 Menschen haben keine Wohnung. Tausende leben auf der Straße.

Insgesamt 50.000 Menschen in Berlin haben keine Wohnung (mehr), wird geschätzt. Tausende leben auf der Straße, Zehntausende in Not- und Gemeinschaftsunterkünften. Wie viele als „Sofahopper“ unterwegs sind oder nach einem Wohnungsverlust bei Bekannten und Verwandten unterkommen, ist unbekannt. Der Weg in die Wohnungslosigkeit ist ein kurzer, wie die Geschichte von Anjas Zwangsräumung zeigt.

Ein reales Beispiel: der kurze Weg in die Wohnungslosigkeit

Anja (Name geändert) wird ihre Wohnung verlieren. Der Rechtsstreit mit ihrem Vermieter ging nicht gut aus. Ihr Anwalt hatte Anja geraten, die Einigung zu unterschreiben. Die besagt, dass sie die Wohnung verlassen muss. Die Frist gibt ihr immerhin Zeit, was Neues zu suchen, für sich und ihre drei Kinder. Das Jobcenter hat durchblicken lassen, den Höchstsatz an Miete zu übernehmen. Sie muss nur was finden.
Sie verbringt Tag um Tag auf den Angebotsportalen, sie schickt unzählige Bewerbungen. Sie spricht zum wiederholten Mal in der bezirklichen Fachstelle für Wohnungsnotfälle vor. Ihrem Antrag auf den M-Schein, der einer Bürgschaft gleichkommt, wird nach Prüfung stattgegeben. Alle sind sich einig, dass der Fall von Anjas Familie dringlich ist – aber, weiß die Mitarbeiterin der Fachstelle, es gibt viele dringende Fälle. Sie nimmt Anja auch auf der Warteliste für Wohnungen aus dem „geschützten Marktsegment“ auf. Ohne jeden Optimismus sagt sie: „Sollte ich was reinkriegen, das passt, melden wir uns“. Das wird nicht passieren.
Bis zum angekündigten Räumungstermin sind es nur noch wenige Wochen. Die Mitarbeiterin kramt in den Papieren, fragt: „Können Sie denn irgendwo unterkommen?“ „Ja, schon, das könnte … da müssen wir uns halt stapeln“. „Gut“, sagt die Mitarbeiterin, gut, sie muss Anjas Familie nicht unterbringen. Sie erklärt ihr nicht, dass sie Anspruch darauf hätte. Sie fragt nicht nach. Und Anja sagt ihr nicht, was es bedeutet, mit drei Kindern in einem kleinen Zimmer bei Bekannten unterzuschlüpfen. Auf unabsehbare Zeit. Anja klappert persönlich die Wohnungsunternehmen ab: „Wir melden uns“, heißt es dort. Und dann: „Rechnen Sie mit einer Wartezeit von zwei Jahren.“
An einem Herbstmorgen findet die Zwangsräumung statt. Der Vermieter rückt mit der Gerichtsvollzieherin, dem Schlosser und der Polizei an. Nachbar*innen sind zu Anjas Unterstützung gekommen. Sie wollen den Vermieter wenigstens um eine Fristverlängerung erweichen, doch der bleibt hartherzig. Er wird die Wohnung sanieren und teuer neu vermieten, schließlich boomt der Kiez. Die Polizistin sagt zur Nachbarin: „Na, dann nehmen Sie sie doch einfach bei sich auf“. Das Schloss ist ausgewechselt, die Zwangsräumung vollzogen, Anja und ihre drei Kinder sind: wohnungslos.

Wohnungslos und obdachlos: wie viele und warum?

Zum Stichtag 31. Dezember 2016 lebten in Berlin 30.718 Menschen als „wohnungslos“ erfasst in Not- und Gemeinschaftsunterkünften, Übergangsheimen und Kriseneinrichtungen. Das ist ein Anstieg um 83% im Vergleich zu 2015. Ein großer Teil dieser Menschen ist auf der Flucht nach Berlin gekommen. Doch außer dieser Zahl gibt es nur Schätzungen darüber, wie viele Menschen zusätzlich bei Bekannten und Verwandten auf engstem Raum unterschlüpfen, so wie Anja nach ihrer Zwangsräumung, oder als „Sofahopper“ von Couch zu Couch ziehen. Deren Wohnungslosigkeit bleibt unsichtbar. Insgesamt gebe es um die 50.000 Wohnungslose in Berlin, wird geschätzt. Tausende von ihnen (eine Statistik gibt es noch nicht) leben ohne Obdach auf der Straße, in Zelten im Gebüsch, neben Feldern am Stadtrand. Sie erleben Stigmatisierung, Kriminalisierung und Vertreibung, wie im Herbst 2017 im Tiergarten.

Bundesweit waren 2016 ca. 860.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung – seit 2014 bedeutet das einen Anstieg um ca. 150 %. Die Bundearbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfen e.V. prognostiziert von 2017 bis 2018 einen weiteren Zuwachs um ca. 350.000 auf dann ca. 1,2 Millionen wohnungslose Menschen: „Die Zuwanderung wirkt zwar verstärkend, aber die wesentlichen Ursachen für Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit liegen in einer seit Jahrzehnten verfehlten Wohnungspolitik in Deutschland, in Verbindung mit der unzureichenden Armutsbekämpfung.“ (Quelle: Bundearbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfen e.V.)
Konkret heißt das u.a.:

  • Bezahlbare und insbesondere kleine Wohnungen fehlen schon lange – und werden nicht neu gebaut, anders als Eigentumswohnungen und Luxusapartements.
  • Kommunen, Bund und Länder haben ihre Wohnungsbestände an privaten Investoren verkauft und damit ihre Steuerungsmöglichkeiten in der Wohnraumversorgung aus der Hand gegeben.
  • Der Sozialwohnungsbestand schrumpft: Seit 1990 ist er bundesweit um ca. 60 % gesunken. 2016 gibt es noch ca. 1,2 Millionen Sozialwohnungen, bis 2020 werden weitere 170.000 aus der Bindung fallen. In Berlin gab es 2016 nur noch 116.597 mietpreisgebundene Wohnungen.
  • Dazu kommt, dass Eigentümer alle – auch illegale – Mittel einsetzen, um Mieter*innen mit alten und günstigen Mietverträgen aus ihren Wohnungen zu verdrängen. Insbesondere wer psychische oder gesundheitliche Probleme hat oder nicht gut deutsch spricht, hat noch schlechtere Chancen, sich zu wehren, sich Hilfe oder auch ein neues Zuhause zu suchen, und sitzt schnell auf der Straße. Über 60.000 Zwangsräumungen bundesweit wurden 2016 gezählt.
  • Auch das Hartz-IV-System hat Anteil: Die skandalösen Kürzungsmöglichkeiten bei den Kosten von Unterkunft und Heizung im Rahmen der Sanktionierung von „Pflichtverletzungen im Sinne des SGB II“ gefährden die Wohnung der Betroffenen unmittelbar.

Das „geschützte Marktsegment“ schützt nicht

Wer sich auf dem Wohnungsmarkt nicht ohne fremde Hilfe mit Wohnraum versorgen kann, der oder dem kann in einem „geschützten Marktsegment“ eine Wohnung vermittelt werden. Die städtischen Wohnungsunternehmen sind vertraglich verpflichet, hierfür Kontingente bereit zu stellen. Klingt soweit nach common sense – und bleibt doch nahezu wirkungslos. Denn die vereinbarten Quoten sind viel zu niedrig. Dazu blieben die Wohnungsunternehmen in der Vergangenheit konsequent hinter ihnen zurück – ohne dafür sanktioniert zu werden. Der Vermittlungsstand im „Geschützten Marktsegment“ lag in Berlin 2016 bei gerade mal 1.304 Wohnungsabschlüssen – in einer Stadt mit 3,6 Millionen Einwohner*innen.

Wenn die Wohnungslosenhilfen wohnungslos werden

Wohnungs- und Obdachlose sind auf Angebote der Wohnungslosenhilfen wie Kälteschutz, Notschlafplätze, Tagescafés, geschützte Frauenräume, Beratung und Unterstützung angewiesen. Für viele Wohnungs- und Obdachlose ist zudem das „Trägerwohnen“ die einzige Chance auf eigene vier Wände. Das heißt: Sie ziehen, allein oder als WG, mit Betreuung in eine Wohnung, die ein Träger der Wohnungslosenhilfe zu diesem Zweck angemietet hat. Doch auch hier schlägt der Mietenwahnsinn zu: Soziale Einrichtungen und Wohnangebote  werden gekündigt oder die Träger können die erhöhten Mieten nicht mehr stemmen.

Der Trend zum Substandard-Wohnen: Container- und Sammelunterkünfte sind menschenunwürdig

Ende 2017 lebten in Berlin rund 25.000 Geflüchtete in Unterkünften des Landes, davon 2.100 in Erstaufnahmen und 3.700 in Notunterkünften, beide nicht einmal mit Kochmöglichkeit. 19.200 hatten in Gemeinschaftsunterkünften wenigstens Zugang zu einer Kochmöglichkeit. Obwohl der Großteil dieser Menschen längst im Asylprozess anerkannt ist, sitzen sie unter unwürdigen Bedingungen in Sammelunterkünften fest, weil sie auf dem Markt keine Wohnungen bekommen. Geflüchtete Menschen brauchen angemessene Wohnungen und nachbarschaftliche Strukturen, um in Berlin ankommen zu können. Stattdessen lässt sich der Trend beobachten, geradezu lautlos das „Substandard-Wohnen“ als auf Dauer gestellte Normalität zu etablieren – und zwar für alle, die mit der Preisentwicklung des Wohnungsmarktes nicht mitziehen können: Leben-in-der-Box-Container, Tiny Houses, Modul- und Leichtbauweise … und auch all das ein lukratives Geschäftsfeld für Investoren. Um das Menschenrecht auf Wohnen für alle zu verwirklichen, darf die Wohnraumversorgung nicht den Regeln der Profits unterworfen sein.

Viele Initiativen fordern diese Maßnahmen:

  • Schutz sozialer Einrichtungen und des betreuten Trägerwohnens vor Mietsteigerung und Kündigung
  • Drastischer Ausbau des Geschützten Marktsegments und der Wohnungslosenhilfen
  • Wirksamer Schutz vor Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt
  • Verbot von Zwangsräumungen und verbesserter Kündigungsschutz
  • Keine Vertreibung von Obdachlosen aus dem öffentlichen Raum, sondern Ausbau niedrigschwelliger bedarfgerechte Unterstützungsangebote der Wohnungslosenhilfen und der psychosozialen und gesundheitlichen Versorgung (herkunftsunabhängig) sowie Aufbau von „Housing first“-Angeboten
  • Enteignungen bei Leerstand und Zweckentfremdung und die Überführung der Immobilien in kommunale „Housing first“– Projekte
  • Rekommunalisierungen und Neubau in Neuer Wohnungsgemeinnützigkeit mit Mietpreis- und Belegungsbindung statt Substandard-Wohnen

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