93 % verstehen Wohnen als Menschenrecht

93 % verstehen Wohnen als Menschenrecht: Spricht daraus ein idealistisches Missverständnis oder eine utopische Träumerei? Nein – das Recht auf Wohnen ist eines derjenigen existentiellen menschlichen Grundbedürfnisse, die als „Menschenrechte der zweiten Generation“ sowohl in den großen Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen [1] als auch in vielen staatlichen Verfassungen als geltendes Recht verbürgt werden. Auch in der Verfassung Berlins [2]. Was bedeutet das?

Recht auf Wohnen: Staaten haben „Schutzpflicht“

Das bedeutet einerseits, dass die Politik schon aufgrund ihrer völker- und verfassungsrechtlichen Verbindlichkeiten dazu verpflichtet ist, bezahlbaren Wohnraum zu gewährleisten, also die Bedingungen dafür zu erhalten oder herzustellen, dass Menschen nicht auf der Straße sitzen. Das kann z.B. durch einen ausreichenden Bestand an Sozialwohnungen und Notunterkünften geschehen.

Andererseits haben Staaten aber auch eine sogenannte menschenrechtliche Schutzpflicht: Demnach sind sie verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die nichtstaatliche, private Akteure davon abhalten, mittelbar oder unmittelbar in den Genuss eines Menschenrechtes einzugreifen. Diese Schutzpflicht wird in den letzten Jahren aus gutem Grund zunehmend unter der Überschrift „Wirtschaft und Menschenrechte“ diskutiert: Die neoliberale Globalisierung führt zu einem gewissen Bedeutungsverlust der Staaten und dazu, dass es oft nicht mehr die Staaten, sondern finanzkräftige Unternehmen sind, die Menschenrechte in aller Welt verletzen. Doch die Jurist*innen – zumindest in den Industrieländern – tun sich schwer, eine unmittelbare Bindung selbst solcher großen und mächtigen Unternehmen an die Menschenrechte zu begründen (Deutsches Institut für Menschenrechte 2018, S.6). Damit bleibt es eine staatliche Aufgabe, profitorientierte Unternehmen zu überwachen, zu regulieren und angemessene Abhilfe für Fälle zu schaffen, in denen Regulierung und Überwachung scheitern.

Das Geschäftsmodell Menschenrechtsverletzung

All das klingt zunächst einmal so, als hätte es nicht viel mit dem Berliner Wohnungsmarkt zu tun, sondern vielleicht eher mit quecksilberverseuchten Flüssen oder unwürdigen Arbeitsbedingungen im globalen Süden. Es macht aber durchaus Sinn, auch die Krise auf dem Wohnungsmarkt in diesem Zusammenhang von Wirtschaft und Menschenrechten zu sehen: Es sind vor allem auch große Wirtschaftsunternehmen, nämlich Immobilienunternehmen und Investmentfonds, die in Berlin und anderswo dafür verantwortlich sind, dass Menschen ihre Wohnung verlieren. Häufig handelt es sich um transnationale Akteure, die in Steuerparadiesen sitzen und mit Spekulation auf mangelnden Wohnraum ihre Rendite maximieren – wie es eben die Globalisierung für die, die es sich leisten können, ermöglicht. Dieses Geschäft funktioniert regelmäßig nur, indem das Recht auf Wohnen vieler Menschen verletzt oder missachtet wird.

Wie so oft, wenn Wirtschaft und Menschenrechte kollidieren, sind es gerade diejenigen, die nicht so mobil und flexibel sind, die unter solchen Geschäftspraktiken leiden. Und wie so häufig wird von den Regierenden so getan, als seien das unbegrenzte Spiel der Märkte und seine Konsequenzen alternativlos.

Mietrecht: Kapitalfluss vs. Menschenrechte

Verletzt die Bundesregierung also die Menschenrechte, indem sie solche Praktiken zulässt? Man kann sich diese Frage vielfach schon mit einiger Berechtigung stellen: Zum Bespiel haben FDP und CDU 2013 das Mietrecht „modernisiert“ – noch mittendrin in einer ausgerechnet durch einen Immobilienboom ausgelösten Finanzkrise und unter Bedingungen von mit billigem Geld gefluteter Märkten. Allerdings nicht, um Mieterinnen und Mieter vor den Bedrohungen ihrer existentiellen Bedürfnisse zu schützen. Vielmehr wurde der Mieterschutz, beispielsweise im Fall aufgedrängter Modernisierungen, merklich aufgeweicht und der mit EZB-Mitteln gedopten Immobilienwirtschaft damit ein gern genutztes Mittel mehr an die Hand gegeben, um weniger zahlungskräftigen Mietern das Bleiben in ihren Wohnungen unmöglich zu machen. Der freie Fluss des Kapitals wurde da ganz offensichtlich als der höhere Wert eingeschätzt.

Es ist an der Zeit, die Politik an ihre Verpflichtungen zu erinnern und eindringlich zu fragen, wo ihre Prioritäten liegen: bei weiterhin ungetrübter Jubelstimmung am sich blähenden Immobilienmarkt oder bei wirksamen Regeln zum Schutz der Menschenrechte?


[1] Art. 25 Abs. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, Art. 11 Abs. 1 UN-Sozialpakt.
[2] So in Art. 28 Abs 1 der Verfassung von Berlin: „Jeder Mensch hat das Recht auf angemessenen Wohnraum. Das Land fördert die Schaffung und Erhaltung von angemessenem Wohnraum, insbesondere für Menschen mit geringem Einkommen, sowie die Bildung von Wohnungseigentum.“

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